AGG-Irrtum: Sexuelle Belästigung? Gibt’s bei uns im Unternehmen nicht!

„Sexuelle Belästigung? Nicht bei uns!“ – so denken viele im Unternehmen. Oft sogar ehrlich gemeint. Doch genau das ist Teil des Problems: Sexuelle Belästigung wird massiv unterschätzt. Warum das trügerisch ist – und wie Ihr sexuelle Belästigung rechtlich, menschlich und strategisch richtig einordnet, zeige ich Euch in diesem Artikel.

Sexuelle Belästigung ist kein Ausnahmefall – sondern passiert viel häufiger, als viele denken

Laut einer Studie¹ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat fast jede zehnte berufstätige Person in Deutschland in den letzten drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Frauen sind dabei mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Und: Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Betroffene sprechen nicht darüber – aus Scham, aus Angst vor Konsequenzen oder weil sie nicht darauf vertrauen, dass ihnen geglaubt wird. Das bedeutet: Auch in Unternehmen, die sich als offen und respektvoll verstehen, kann sexuelle Belästigung ein reales, aber unsichtbares Problem sein.

Eine vertiefende Befragung von Betroffenen zeigt:

  • In 43 % der Fälle ging die Belästigung von Kolleg*innen auf gleicher Ebene aus
  • In 19 % von Vorgesetzten oder anderen höhergestellten Personen
  • In über der Hälfte der Fälle (53 %) kamen die Übergriffe von Kundinnen oder Klientinnen

Besonders schwierig ist es für Betroffene, sich zu wehren, wenn ein Machtgefälle besteht – etwa bei Belästigung durch eine Führungskraft oder in Abhängigkeitsverhältnissen, wie bei Auszubildenden oder Praktikant*innen.

Was im Gesetz unter sexueller Belästigung verstanden wird

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Menschen vor Diskriminierung und sexueller Belästigung schützen – besonders im Arbeitsleben.

Laut AGG gelten als sexuelle Belästigung:

„alle unerwünschten sexuell bestimmten Verhaltensweisen, die die Würde der betroffenen Person verletzen.“ (§ 3 Abs. 4 AGG)

Diese Definition ist bewusst weit gefasst – und das ist wichtig. Denn sexuelle Belästigung hat viele Gesichter.

Hier ein paar konkrete Beispiele, was am Arbeitsplatz als sexuelle Belästigung gelten kann:

  • Wenn jemand ungewollt körperlich berührt wird – zum Beispiel an der Schulter gestreichelt oder an der Hüfte angefasst
  • Wenn eine Kollegin oder ein Kollege ungefragt hört: „In dem Kleid siehst Du heute ziemlich heiß aus!“
  • Wenn jemand regelmäßig anzügliche Witze erzählt
  • Wenn Mitarbeitenden unangemessene Fragen gestellt werden – zum Beispiel „Trägst Du einen BH bei der Arbeit?“ oder „Hast Du eigentlich einen Freund?“
  • Wenn jemand einer anderen Person im Büro hinterherpfeift oder sie mit aufdringlichen Blicken fixiert
  • Wenn eine Person über private Nachrichten Nacktbilder oder sexuell anspielende Videos zugeschickt bekommt
  • Wenn pornografisches Material im Arbeitsumfeld sichtbar platziert wird – etwa auf dem Bildschirmhintergrund oder als Kalender

Wichtig: Nicht die Absicht zählt, sondern die Wirkung. Auch wenn jemand „es doch nur nett gemeint hat“ – wenn sich eine andere Person unwohl, erniedrigt oder bloßgestellt fühlt, kann das bereits sexuelle Belästigung sein.

Zwischen Alltagsgeste und Grenzüberschreitung: Wann es kritisch wird

Gibt es eine klare Grenze? Ja und nein.

Ein Handschlag zur Begrüßung ist in den meisten Fällen völlig normal. Ein Klaps auf den Po ist eindeutig nicht okay. Doch bei einer Umarmung oder einem Kommentar zum Äußeren wird es komplizierter. Hier kommt es stark auf den Kontext an:

  • Gibt es ein Machtgefälle – zum Beispiel, wenn eine Führungskraft sich einem Teammitglied gegenüber unangemessen verhält?
  • Kennen sich die Personen gut – etwa durch eine private Freundschaft oder lange Zusammenarbeit?
  • Hat die betroffene Person schon einmal gesagt, dass ihr dieses Verhalten unangenehm ist – und es wurde trotzdem wiederholt?

Je stärker das Machtverhältnis und je weniger klar die Beziehung, desto eher werden Grenzen überschritten. Deshalb reicht es nicht aus, nur Regeln aufzustellen. Es braucht regelmäßige Sensibilisierung.

Sexuelle Belästigung ist etwas anderes als ein Flirt

Viele Menschen verwechseln sexuelle Belästigung mit Flirten. Aber: Flirten ist beidseitig und einvernehmlich – sexuelle Belästigung ist einseitig, unerwünscht und verletzt die Würde einer Person.

Entscheidend ist also nicht, was gesagt oder getan wird, sondern ob es gewollt ist.

Beispiele für Formen sexueller Belästigung:

  • Verbal
    • „So wie Du heute aussiehst, würde ich Dich am liebsten mit nach Hause nehmen.“
    • Witze über das Liebesleben anderer im Team
    • Anspielungen auf die Kleidung („Zeigst Du das extra?“)
    • Intime Fragen, z. B. zur sexuellen Orientierung oder zu Partnerschaften
  • Nonverbal
    • Aufdringliche Blicke; Pfeifen oder Kussgeräusche im Vorbeigehen
    • Unerwünschte Bilder oder Videos mit sexuellem Inhalt
    • Sich entkleiden oder sexuelle Gesten machen
  • Körperlich
    • „Zufällige“ Berührungen an Rücken, Taille oder Oberschenkel
    • Körperliche Nähe, die bedrängt
    • Sexuelle Übergriffe

Warum viele Betroffene nicht offiziell reagieren

Viele Menschen, die sexuelle Belästigung erleben, sagen deutlich „Stopp“. Aber nur vier von zehn Betroffenen sprechen mit Kolleg*innen, Führungskräften oder anderen Ansprechpersonen darüber. Nur 23 % melden den Vorfall offiziell – zum Beispiel bei Vorgesetzten oder einer Beschwerdestelle. Den Rechtsweg gehen gerade einmal 1 %.

Warum?

  • Aus Angst vor negativen Folgen, etwa dass man nicht mehr ernst genommen wird oder Nachteile im Job erlebt
  • Weil nicht klar ist, wo oder wie man sich beschweren kann
  • Oder weil viele hoffen, das Problem selbst lösen zu können

Gerade junge Menschen oder Personen in einer schwächeren Position – z. B. Praktikant*innen – tun sich oft besonders schwer. Noch schwieriger wird es, wenn der Vorfall von einer Führungskraft ausgeht.

Was das Schweigen verstärkt: Schuldzuweisungen, Herabsetzung und fehlende Solidarität

Viele Betroffene machen nicht nur mit dem eigentlichen Übergriff schmerzhafte Erfahrungen – sondern auch mit den Reaktionen danach. Und genau diese können das Leid weiter verschärfen.

  • Victim-Blaming („Opfer-Schuld-Zuweisung“) Aussagen wie „Warum hast du nicht Nein gesagt?“ oder „Du hast es doch provoziert“ schieben die Verantwortung vom Täter auf die betroffene Person. Das lenkt vom eigentlichen Unrecht ab und verletzt zusätzlich.
  • Victim-Bashing Hier werden Betroffene offen angegriffen oder diskreditiert – etwa mit Aussagen wie „Sie lügt“ oder „Er will nur Aufmerksamkeit“. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit und grenzt die Person aus.
  • Sekundäre Viktimisierung Wer Hilfe sucht und dabei abgewiesen oder nicht ernst genommen wird, wird erneut zum Opfer – z. B. durch gleichgültige Rückmeldungen oder misstrauische Nachfragen.
  • Verharmlosung Wenn Übergriffe als „Missverständnis“ oder „harmloser Flirt“ abgetan werden, werden die Taten und das Leid der Betroffenen kleingeredet.

All diese Reaktionen verstärken das Leid, führen zu Scham, Selbstzweifeln und dem Gefühl, allein zu sein. Die Folge: Betroffene ziehen sich zurück – und Täter*innen kommen oft ungeschoren davon.

Was Unternehmen tun können – und sollten

Sexuelle Belästigung lässt sich nicht allein mit einem Hinweis im Intranet oder einer Betriebsvereinbarung verhindern. Unternehmen brauchen eine klare Haltung und Strukturen, die Betroffene wirklich schützen.

Wichtige Maßnahmen sind:

  • Wirksame Schulungen, die regelmäßig stattfinden – und nicht nur beim Onboarding
  • Möglichkeiten zum vertraulichen Austausch, z. B. über anonyme Feedbackkanäle oder geschulte Ansprechpersonen
  • Klare Anlaufstellen für Beschwerden, die ernst nehmen und unterstützen
  • Führungskräfte, die sich der eigenen Vorbildfunktion bewusst sind und aktiv für respektvolles Miteinander einstehen
  • Betriebsvereinbarungen, Verhaltensregeln und Selbstverpflichtungen, die allen Mitarbeitenden bekannt sind – und auch gelebt werden

Wer das umsetzt, schützt nicht nur Mitarbeitende – sondern stärkt auch das Miteinander, das Vertrauen und die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.

Mein Tipp:

In einer guten AGG-Schulung werden diese Maßnahmen mitvermittelt – so lassen sich rechtliche Grundlagen und praktische Handlungsmöglichkeiten wirksam und effizient in Eurem Unternehmen verankern.

Fazit: Verantwortung beginnt, wo Wegsehen aufhört

Wer glaubt, das Thema gehe das eigene Unternehmen nichts an, übersieht das Risiko – und verpasst eine Chance. Denn eine respektvolle, diskriminierungsfreie Arbeitskultur beginnt genau dort, wo schwierige Themen nicht verdrängt, sondern aktiv angegangen werden.

Wie geht Ihr in Eurem Unternehmen mit dem Thema sexuelle Belästigung um?

Habt Ihr Strukturen geschaffen, die sensibilisieren, schützen und Orientierung geben?

Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, das eigene Unternehmen durch die Brille des AGG neu zu betrachten – nicht als Verpflichtung, sondern als Chance für Kultur, Vertrauen und Zukunftsfähigkeit.

Respektvolle Grüße
Martin Uhrig

¹Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Studie „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“, 2019

Hinweis: Dieser Text dient der Information und ist keine Rechtsberatung.

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Martin Uhrig

ist Gründer von Respektvoll Miteinander. Gemeinsam mit seinem Team entwickelt er innovative E-Learning-Lösungen zu Antidiskriminierung und respektvoller Unternehmenskultur. Als CODA (Kind gehörloser Eltern) bringt er eine besondere Perspektive mit – und setzt sich leidenschaftlich dafür ein, dass in Unternehmen alle faire Chancen erhalten und sich zugehörig und wertgeschätzt fühlen.

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